Heimat, Hoffnung, Heilung, Stigma
“Vor der Tür zum Fegefeuer… ”
Nach dreiwöchigem Aufenthalt im Landeskrankenhaus Rankweil kam ich in einem Zustand der völligen Aufgelöstheit in Maria Ebene an. Ich hasste das Landeskrankenhaus Rankweil, dort hatte ich händeringend gebeten, doch die restlichen Wochen bleiben zu dürfen, um ja nicht nach Maria Ebene gehen zu müssen, was man mir aber nicht genehmigte, mit dem Argument, dass dies das einzig Hilfreiche ein meiner Situation sei. Ich hasste mich, die ich mich ja selbst in diesen Zustand und all das damit Verbundene hineinmanövriert hatte. Und schlussendlich hasste ich aus tiefstem Herzen Maria Ebene, nicht wissend was mich hier erwartete, aber schon allein der Name und all das was man „draußen“ damit verbindet, war mir zutiefst zuwider.
Ich hatte das Gefühl, die Welt steht still. Und um es einmal ganz plakativ auszudrücken „ich stand vor der Tür zum Fegefeuer, wenn nicht zur Hölle“. Was ich damit sagen will, ich hatte grauenhafte Angst hier zu bleiben, ich weiß bis heute noch nicht, warum. Ständig fragte ich mich. „Warum ich? Es gibt doch so viel andere, die viel schlimmer sind als ich! Kann ich nicht aufwachen und alles war nur ein böser Traum, ein Albtraum?“
Ich hatte Angst. Das Aufnahmegespräch mit der Schwester hat mich auch nicht wirklich beruhigt. Ich müsse acht Wochen bleiben und die Zeit von Rankweil zähle nicht. Acht Wochen, das sind 56 Tage. Du lieber Himmel, ich möchte nur noch fort, fort – frei nach dem berühmten Satz von Helmut Qualtinger der da lautet „Ich weiß nicht wo ich hin will, Hauptsache ich bin früher dort.“
Meine Therapiezeit
Hier bleibe ich sicher nicht lange, das waren die Gedanken die ständig in meinem Kopf kreisten. Dann das Haus selbst: Nach unten, nach oben, einmal nach links, dann wieder nach rechts, Zwischenstöcke, im Neubau hatte man das Gefühl es wackelt, anfangs wusste ich nie wo ich wirklich bin, die spartanisch eingerichteten Zimmer ohne Telefon. Da ich keine Handys mag, hatte ich so etwas auch nicht dabei, das Telefon bei der Portierloge war damals kaputt. Ich hatte das Gefühl lebendig begraben zu sein. Laufen bis zum Holzkreuz und zurück zur Kirche, so oft es geht, aber halt zu wenig Freiheit. Acht Wochen, lieber Gott das kann doch nicht wahr sein, sende mir ein Erdbeben oder so etwas ähnliches, dass ich von hier wegkomme, schwer verletzt wäre mir noch egal, nur fort von hier, weit fort….
Die erste Nacht war schrecklich. Die Uhr vom Kirchlein schlägt, elfmal, zwölfmal, einmal, zweimal, dreimal viermal, fünfmal, sechsmal… Um sechs Uhr Aufstehen, da war ich müde und verzagt. Was kommt heute? Das erste Frühstück. Lauter Fremde, die A-Gruppe, die schon einen Monat hier ist, ist eher fröhlich – ich fragte mich warum – der Rest eher kleinlaut bis wortlos.
Dann aktives Erwachen, welch ein Lichtblick! Der erste Vortrag über Alkoholismus und die Hausordnung, die mir wieder einiges Kopfzerbrechen bereitete. Hoffentlich mache ich alles richtig, damit ich keinen Minuspunkt einfahre. Aber der Vortrag hatte es in sich. Zum ersten Mal hörte ich, dass ich krank bin, dass ich nicht zum Abschaum der Menschheit gehöre, sondern dass Alkoholismus eine Krankheit ist. Wir hörten unter anderem, dass wir uns bei dieser Krankheit fast ganz allein helfen können, dass wir die Krankheit als solche annehmen müssen, können und sollen. Wie immer wir das auch auslegen und uns selbst am besten helfen können. Das war ja schon etwas. Nun denn Frau Fröwis, genug gejammert, packen wir es an.
Langsam, ganz langsam keimte so etwas wie Hoffnung auf. Dank der Hilfe all der liebenswürdigen Menschen hier wurde ich Tag für Tag mehr ich selber. Das Korsett, in das wir gezwängt wurden war zwar eng, aber es machte Sinn. Ebenso die vorhin schon erwähnte spartanische Einrichtung aller Räumlichkeiten. Diese Dinge verhalfen –zumindest mir – zu einer Reduktion meines Inneren auf das Wesentliche. Eingesehen habe ich das allerdings erst Monate nach meiner Entlassung.
Ganz langsam begann das System in meinem Hirn zu greifen. Der strukturierte Tagesablauf war sehr wichtig. Ich jedenfalls hatte vorher jeglichen Bezug zur Realität verloren. Durch das Bestehen und Einhalten verschiedener Zwänge und Regeln fing ich wieder an, „normal“ zu reagieren. Es war ein sanfter, aber stetig steigender Druck. Ich konnte mich nicht einfach hinsetzen oder liegen und mich in Selbstmitleid suhlen, es war fast immer etwas zu tun.
Informativ und kreativ
Dann der erste Vortrag des Chefs: Der große Professor Haller sagte uns armen Würstchen, dass wir krank sind. Er, der allen aus Rundfunk und Fernsehen bestens bekannte Arzt, sagte uns dies. Das war Balsam auf die wunde Seele. Da hüstelten selbst die stärksten Raucher nur mehr ganz leise vor Ehrfurcht. Auch er sprach von den Folgen, die zu großer Alkoholkonsum mit sich bringt und zumindest ich dachte mir zu dieser Zeit, dass ich doch recht gut daran getan habe nach Maria Ebene zu gehen. Was für eine Erkenntnis….
Gut in Erinnerung blieb mir auch der erste Vortrag des von den Rauchern so gar nicht geliebten Magister Münst. Ein einsamer Kämpfer für mehr Gesundheit und Lebensqualität. Bewundernswert, wie er strahlend lächelnd die Nachteile des Rauchens aufzählte und die Gesundheitsgefährdung anprangerte. Das hieße für die Raucher unter uns zwei Süchte zu bekämpfen, was sicher für viele unmöglich scheint, aber Magister Münst arbeitet wahrscheinlich nach dem Motto: „Wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft hat verloren.“ Auch ein wunderbares Motto für uns.
Mehr und mehr wurde ich wieder ich selbst. Ursache und Wirkung wurden erkannt, besprochen und therapiert, auch mit Hilfe der Kunsttherapeuten. Ich wusste gar nicht, was für Fähigkeiten in mir stecken. Jetzt habe ich zu Hause ein kleines Seidenmal-Atelier und immer noch sehr viel Freude daran. Nicht vergessen möchte ich auch den großen Einsatz all der Leute aus dem Pflegezimmer unter der Leitung von Frau Pflegedirektorin Mona Franzke. Die großen und kleinen Wehwehchen, psychischer und physischer Natur, wurden sofort behandelt und es gab immer ein freundliches aufmunterndes Wort oder Gespräch, je nach Bedarf.
Auch der tägliche Blick auf den Speiseplan war nach einer bestimmten Zeit etwas Besonderes für mich. Die Frage: „Was gibt es heute Gutes“, gehörte zum täglichen Rhythmus, und es war immer gut. Die Arbeit in der Portierloge war angenehm und abwechslungsreich. Es war gut, Beschäftigung zu haben. Langsam, ganz langsam kam wieder Normalität in mein Leben.
Erster Ausgang nach Hause
Alles war vertraut, aber doch fremd, zwar schön, aber anders. Zurück in Maria Ebene war es wie eine Flucht aus der Wirklichkeit, Flucht in einen Kokon, der mich festhielt. Jetzt war ich gefordert, musste an mir arbeiten, um „draußen“ bestehen zu können. „Step by step“ ging es aufwärts. Die Wochenenden wurden besser.
Ein Stück Geborgenheit
Mittlerweile war Winter. Die Adventzeit brach an. Nie in den letzten Jahrzehnten hatte ich so stimmungsvoll und vor allem ruhig den Advent verbracht. Keine Hektik, leiser Optimismus, versteckte Fröhlichkeit, Adventkranzbinden, kleine Geschenke herstellen, Vorbereiten auf Nikolaus. Es war schön. Nie hätte ich gedacht, dass all dies möglich war, dass man sich an all das hier so gewöhnen kann, sich geborgen fühlt und eher Angst vor denen da „draussen“ hat.
Die Wochen gingen ins Land, ohne dass ich draußen dabei war. Meinte ich doch, dass das Leben draußen ohne mich, gar nicht stattfinden könne. Stattdessen heilten die Wunden, zwar langsam, aber stetig. Man lernte viel über Sucht und noch mehr über sich selbst. Unsere Gruppe war sicher die beste, die Maria Ebene je gesehen hatte. Wir hielten zusammen und jeder mochte jeden, mehr oder weniger.
Und jetzt kommt mein großes Anliegen
Schön wäre es, könnte man nach dieser Zeit hinausgehen und auf entsprechende Fragen locker antworten, dass man ein paar Wochen in Maria Ebene war, um dann ganz unbefangen von all dem, was man dort erlebt hat zu erzählen: die hervorragende Betreuung, die Zuwendung, das gute Essen usw. Aber, und das ist ein Problem: Trinken ist gesellschaftsfähig, Trinker sind es nicht.
Viele Menschen können damit nicht umgehen. Ich erinnere mich an einen Vortrag von Herrn Primar Haller, in dem er erklärte, dass Sucht nicht von suchen, sondern von siechen kommt. Und die Siechenden kann die Gesellschaft nicht brauchen, oder will sich damit nicht beschäftigen, obwohl jeder der in Maria Ebene war oder ist, diese Krankheit ja bekämpfen will.
Ich hatte vor kurzem eine Diskussion mit Patienten, die entlassen wurden und wir sprachen darüber, was jeder erzählt, wenn er nach Hause kommt. Ein Herr meinte, das sei ja nicht so einfach mit der Krankheit, unsere Krankheit wäre ja nicht attraktiv. Da frage ich mich schon, gibt es überhaupt eine attraktive Krankheit? Das lasse ich jetzt einmal so stehen..
Warum kann man über unsere Krankheit bzw. Sucht nicht offen reden?
Eine Einrichtung wie Maria Ebene und im Speziellen Maria Ebene gehört gelobt und man soll offen erzählen können, andere ermutigen sich all dem zu stellen und nicht hinter vorgehaltener Hand darüber tuscheln. Manchmal glaube ich, dass ein Gefängnisaufenthalt, warum auch immer, von der Gesellschaft mehr toleriert wird, als ein Aufenthalt in Maria Ebene. Was für ein Schwachsinn.
Aus meiner Lebenserfahrung kann ich nur allen, die sich der Herausforderung Maria Ebene stellen, Mut machen, vorher, währenddessen und nachher stark zu bleiben und nicht aufzugeben, auch als Stigmatisierter der Gesellschaft. Das Leben ist zu kurz für zweite Qualität. Dank Maria Ebene haben wir die erste wieder. Die Sieger sind wir!
Johannes Mario Simmels Buchtitel „Hurra wir leben noch!“ (er ist selbst ein Betroffener) soll motivierend sein. Das Leben hat uns wieder. Die Lebensfreude ist wieder da. Das Leben ist schön und soll schön bleiben. Es ist fast alles so wie früher, wäre, ja wäre da nicht Maria Ebene gewesen. Der Aufenthalt hier wird immer zu meinem Leben und zu mir gehören. Ich möchte es auch nicht anders haben. Maria Ebene ist jetzt ein Teil von mir. Danke, Maria Ebene.